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ASMR aus psychoanalytischer Sicht

danielskoda

ASMR ist ein Phänomen, welches im chaotischen Rauschen des Internets unscheinbar und harmlos, doch bei näherer Betrachtung dermassen eigenartig und farbenfroh erscheint, dass es die Aufmerksamkeit der Psychologie, insbesondere der Psychoanalyse auf sich ziehen sollte. Angesichts des breiten Onlineangebots an merkwürdigen Videos und Audiodateien, wo geflüstert, gestreichelt und geschmatzt wird, und bei bisher spärlicher akademischer Auseinandersetzung damit, verspricht eine psychoanalytische Betrachtungsweise Licht auf einige zentrale Aspekte dieser Erscheinung zu werfen, wobei eine solche Konfrontation für die Psychoanalyse selbst nur gewinnbringend sein kann.


ASMR, kurz für Autonomous Sensory Meridian Response, bezeichnet laut Wikipedia: "die Erfahrung eines statisch-ähnlichen oder kribbelnden Gefühls auf der Haut, das typischerweise auf der Kopfhaut beginnt und sich entlang des Nackens und der oberen Wirbelsäule bewegt (sogenannte Tingles). Dieses Gefühl wird als beruhigend und angenehm empfunden und häufig durch akustische, visuelle und taktile Sinnesreize (sogenannte Trigger) ausgelöst, seltener auch durch blosse persönliche Aufmerksamkeit und Zuwendung durch eine andere Person" („Autonomous Sensory Meridian Response“, 2021). Phänomenologisch wird ASMR mitunter wie folgt beschrieben: "Auf meiner Kopfhaut begann ein angenehmes Spannungsgefühl, das dann über den Nacken langsam hinunterwanderte, verbunden mit einem Bewusstsein gesteigerter Konzentration. Ich wurde ein wenig high" (Setz, 2015). Und: "I liked how it felt when the school nurse gently combed through my hair with the short wooden sticks. I felt sleepy and it gave me tingly goose bumps on the top of my head" (Green-Oliver, 2013). Scheinbar ist es nur gewissen Individuen vergönnt, eine solche Empfindung zu erleben. Diese werden hier als ASMR-Empfindliche bezeichnet.


In den letzten Jahren gewann das Phänomen ASMR über das Internet massiv an Popularität. Es wurden und werden unzählige Videos und Audiodateien produziert und geteilt, die spezifisch die ASMR-Empfindung auslösen sollen. Die Videos, viele davon mittlerweile aufwändig produziert und von hoher technischer Qualität, werden von Privatpersonen auf Plattformen wie Youtube.com geteilt. Bereits 2014 wurde die Anzahl von ASMR-Videos auf 2,6 Millionen Videos geschätzt (Fairyington, 2014). Des Weiteren entstanden zahlreiche Internetplattformen wo sich ASMR-Empfindliche austauschen. In der ASMR-Community wird dabei ein eigener Jargon verwendet: Die Produzenten der Videos nennen sich "ASMRtists" oder "Whisperer", die ASMR provozierenden Sinnesreize heissen "Trigger" und die kribbelnden ASMR-Empfindungen selbst werden als "Tingles" bezeichnet. Häufige und beliebte Trigger sind zum Beispiel: Knistern, Prasseln/Kratzen mit Fingernägeln, Geflüster, Ohrblasen, Schmatz-, Leck- und Kaugeräusche, Berührungen, welche durch streichende Hände nahe der Kamera simuliert werden, sogenannte interpersonelle Aufmerksamkeit, verbale Ermutigung oder sorgfältig ausgeführte Tätigkeiten, wie leises Aufräumen, in Büchern Blättern, Haare Bürsten etc.


Bisherige Forschung


ASMR wurde bislang verglichen mit Gänsehaut, Synästhesie, Flow-Erleben, Achtsamkeitsübungen und als Gegenstück zur Misophonie (Abneigung gegen bestimmte Geräusche) konzeptualisiert (Barratt & Davis, 2015). Darüber hinaus gibt es Hinweise auf positive Effekte bei Depression, Angstzuständen, Stress, chronischen Schmerzen und Schlafstörungen (Barratt & Davis, 2015). Auf neuropsychologischer Ebene fand man mittels statisch-bildgebender Verfahren bei ASMR-Empfindlichen eine "atypische Konnektivität" des DMW (Default Netzwerk), des so zu bezeichnenden neuronalen Ruhenetzwerks im Gehirn (Katherine Fredborg & Kornelsen, 2017). Funktionelle bildgebende Verfahren ergaben, dass die Empfindung von ASMR mit Aktivierung des Nucleus Accumbens, des dorsalen anteriores Cingulum, der Insula und des inferioren frontalen Gyrus (Lochte,

Guillory, Richard, & Kelley, 2018) einhergeht. Kurz: bei ASMR werden dieselben Netzwerke aktiv, die auch bei zwischenmenschlichen lustvollen Empfindungen oder bei Gänsehaut aktiv werden.

 

Auffallend ist, dass sich die bisherigen Studien häufig mit Korrelaten beschäftigen, theoretische Überlegungen finden sich selten und wenn, dann höchstens als spekulative Anmerkungen am Rande. Das Mikroskop der Forschung scheint gezielt auf ASMR als neurologisch erklärbare Empfindung ausgerichtet, welche durch zufällig so geartete Verbindungen zwischen Reiz und Reaktion hervorgebracht wird (Smith & Snider, 2019). Es kursieren einige wenige Schriften, die diesen ausschliesslichen Fokus auf die neurologische Ebene kritisieren oder die psychologischen und sozialen Aspekte dieses Phänomens zu ergründen suchen. So zieht (Collins, 2012) Verbindungen zu: "social grooming habits of other animals as a potential lineage for our own thrills of caring”. Andersen (2015) findet die Wirkung von ASMR primär durch den ASMRtist hervorgerufenen Affekt in einem von ihm/ihr eröffneten intimen Raum zwischen Konsument und Künstler begründet. Und Auch Smith und Snider (2019) sehen ASMR zunächst als affektives, soziales Phänomen.

Davon abgesehen mag der bisherige Ausschluss von zwischenmenschlicher Emotion, Affekt und Sexualität ein Markenzeichen der modernen psychologischen Mainstreamforschung zu sein, doch scheint hier die Differenz von wissenschaftlicher Konzeptualisierung und Erleben so gross, dass sich die Frage stellt: Woher kommt die Lust bei ASMR und warum ist sie so schamhaft, dass die bisherige wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Phänomen dermassen mechanistisch ausfällt? Um diese Fragen zu beantworten ist es nötig einen Schritt zurückzutreten und das Drumherum zu betrachten, sozusagen den ganzen Wald zu erblicken, um den einzelnen Baum besser zu verstehen.

 

Geschichte

 

ASMR ist zwar erst seit wenigen Jahren ein allgemein bekanntes Phänomen ist, die ASMR-Empfindung allerdings ist viel älter. Ein ASMR-Empfindlicher erzählt, wie er früher auf der Suche nach Triggern die Bibliothek aufsuchte, Zitat: "Der stärkste Trigger im Lesesaal war das Räuspern von Menschen, die wussten, dass ihr Räuspern durch die Akustik des Raums amplifiziert wurde und es deshalb so sanft wie möglich machten" (Setz, 2015).

Die erste als solche interpretierte Beschreibung der ASMR-Empfindung findet sich im Roman "Mrs Dalloway" von Virginia Woolf von 1925: "'K . . . R . . .' said the nursemaid, and Septimus heard her say "Kay Arr” close to his ear, deeply, softly, like a mellow organ, but with a roughness in her voice like a grasshopper’s, which rasped his spine deliciously and sent running up into his brain waves of sound which, concussing, broke. A marvellous discovery indeed—that the human voice in certain atmospheric conditions (for one must be scientific, above all scientific) can quicken trees into life!" (Woolf, 2007, S.141) Und auch der Arzt und Autor Walker Percy beschäftigte sich in seinem 1971 erschienenen Roman: "Love in Ruins", mit ASMR-artigen Empfindungen (Percy, 2011). Mehr zu Percy weiter unten.

Dieser kurze Überblick über die Geschichte von ASMR wäre nicht komplett ohne Bob Ross. Ross war Künstler und Star seiner eigenen Fernsehsendung namens "The Joy of Painting" (1983-1994), wo er demonstrierte, wie man mit einfachen Techniken kitschig-schöne Landschaftsbilder malen kann. Interessant hierbei, dass wahrscheinlich viele, die diese Sendung genossen, nie versuchten, ein Bild nachzumalen. Der Reiz lag für diese gewiss zunächst im visuellen Farbenspektakel, aber auch in Bob Ross’ sanfter Stimme, seinen zuckersüssen Kommentaren und den leisen Geräuschen des Pinsels auf der Leinwand. Ross wird in der ASMR-Community auch als "Godfather of ASMR" bezeichnet (Taylor, 2014).

Die Bezeichnung "ASMR" wurde 2010 von Jennifer Allen, einer ASMR-Empfinderin eingeführt. Vorher wurde das Phänomen mitunter als "Attention induced Orgasm", "Braingasm" etc. bezeichnet (Richard, 2016). Es folgt der Versuch einer Kartografierung des ASMR-Angebots an Videos und Audiodateien im Internet (vor allem auf Youtube.com), mit der Idee, dadurch etwas über die Nachfrage und in einem weiteren Schritt etwas über das Phänomen ASMR selbst zu erfahren.

 

Das Angebot

 

Wir beginnen mit einer groben Klassifizierung des ASMR-Angebots. Diese richtet sich hier nicht nach den Arten von Triggern, obwohl sie freilich bis zu einem gewissen Grade mit diesen einhergeht, sondern soll die Darstellung/Darbietungsform derselben beschreiben. Diese Klassifikation erhebt dabei keinen Anspruch auf Vollständigkeit, doch soll sie für unsere Zwecke vorerst genügen. 

 

1. Rein akustische Videos/Audiodateien:

Hier geht es um Dateien, wo nur Geräusch präsentiert wird, ohne Rede. Hier einzuordnen sind sowohl Dateien, wo zum Beispiel das Sprudeln von kohlensäurehaltigen Flüssigkeiten zu hören ist, als auch Ambiente, wo man das Rauschen eines Wasserfalls, Regen auf dem Dach, Rascheln von Blättern im Wald, entfernter Strassenlärm gepaart mit unverständlichen Stimmen oder die dezente Geräuschkulisse einer Bibliothek. Diese und ähnliche Videos gab es schon vor den ASMR-Videos und werden zum Teil auch von ASMR-Unempfindlichen als White Noise genossen.

 

2. Akustisch-taktiles-visuelle Videos: Hier liegt der Schwerpunkt sowohl auf dem Geräusch als auch dem visuellen Aspekt, wo beide Arten der Sinnesmodalitäten augenscheinlich eine dritte, die taktile erregen sollen. Als Beispiel für diese Kategorie, stellen sie sich ein Video vor, wo man sieht, wie eine Person genüsslich mit den Händen in einer Schüssel mit farbenfroher Knetmasse herummatscht oder geräuschvoll mit den Fingernägeln auf Stoffen herumkratzt.

 

3. Narrative Videos: hier wird flüsternd gesprochen, es werden allerhand Texte vorgelesen, wie zum Beispiel Poesie, Gruselgeschichten, "Krieg und Frieden" oder man lernt etwas über Geschichte, zum Beispiel die "History of Egypt" in ASMR-Form. Der Umfangreichtum dieser Modalität ist nicht zu unterschätzen.

 

4. Tätigkeiten: Hier werden bestimmte Tätigkeiten leise und sorgfältig ausgeführt und zum Teil auch flüsternd kommentiert. Diese Videos könnte man auch als eine Kombination aus den akustisch-taktil-visuellen und narrativen sehen, sie scheinen aber so häufig in dieser Form vorzukommen, dass man sie doch als eigenes Genre bezeichnen könnte. Beispiele reichen vom Einordnen von Sammelkarten oder Briefmarken, bis zum leisen, sorgfältigen Putzen eines Sturmgewehrs.

 

5. Zwischenmenschliche Videos: Diese beinhalten oft eine Kombination von den vorhin genannten Elementen, allerdings liegt hier der Schwerpunkt auf dem Gegenüber, der Person des/der ASMRtistIn, die einen mit Geräuschen, Utensilien und Geschichten unterhält. In diesem Rahmen werden häufig Rollenspiele gespielt, wo der Betrachter als Protagonist in ein Narrativ miteinbezogen wird. Das Angebot an zwischenmenschlichen Videos und insbesondere an Rollenspielen ist dermassen gross und vielgestaltig, dass es hier einer genaueren Betrachtung unterworfen werden soll.

 

Rollenspiele

 

Wie bereits erwähnt, existiert eine ungeheure Bandbreite an Zwischenmenschlichen und Rollenspiel-ASMR-Videos und Audiodateien. Das Angebot reicht vom Minimalistischen, wo das Gegenüber während des gesamten Videos einzelne Worte oder Phrasen wiederholt, wie zum Beispiel "I love you" oder "It’s okay" bis hin zu komplexen Rollenspielen, wo aufwändig mit Kostümen, Requisiten und Spezialeffekten gearbeitet wird. Oft wird sich dabei auf irgendeine Weise um den Zuschauer gekümmert; er wird liebevoll, sanft und flüsternd behandelt und mit Aufmerksamkeit verwöhnt. Zum Beispiel wird man geschminkt, es werden die Haare geschnitten, man wird rasiert oder man wird von Ärzten untersucht. Man ist zu Besuch bei einem Parfümier der die Parfüm-Fläschchen schüttelt; man wird in einem Laden beraten, die Produkte werden sanft darüber streichend und mit den Fingernägeln darauf prasselnd vorgestellt.

Der Rahmen für die aufgezählten Tätigkeiten hier ist offensichtlich die Dienstleistung. Die Nähe und Intimität bleiben unausgesprochen und im Kontext des Spiels als unbeabsichtigter, nebensächlicher Teil enthalten. Allerdings muss diese Konstellation nicht die übliche sein, denn es existieren ebenfalls zahlreiche Videos, wo die Intimität offen als und zentraler Teil des Videos gelebt wird. So zum Beispiel bei den vielen "Girlfriend/Boyfriend" Videos, wo der Zuschauer beim romantischen Date mit seinem/r PartnerIn bei Kerzenschein im Restaurant sitzt oder im Bett kuschelt und verbale sowohl als auch simulierte physische Zärtlichkeiten austauscht. Ebenfalls gibt es Mutter-Kind Rollenspiele mit Titeln wie:  "ASMR - Mom Comforts You After Nightmare" oder "ASMR Personal Attention for Sick Child", wo der Zuschauer beruhigt und mit einem sanft gesummten Schlaflied ins Bett gebracht, also im wahrsten Sinne des Wortes bemuttert wird.

Diese Rollenspiele können durchaus ins Fantastische oder Absurde gehen: So wird man von Vampiren ausgesaugt und hört dabei das schlürfende Sauggeräusch, man spricht mit Hermione aus Harry Potter, man wird von Außerirdischen entführt und untersucht, man wird als Kriegsverwundeter von einer Pflegerin liebevoll versorgt, man kriegt das kommunistische Manifest von einem Parteigenossen vorgelesen oder man hat den Joker aus Batman vor sich, der sich aus dem Halbschatten drohend und flüsternd mit dem Zuschauer, seiner Geisel, beschäftigt. Der Übergang zur Parodie scheint fliessend und es gibt nichts, dass es nicht gibt.

Doch um noch etwas auf dieser düsteren Bahn zu verweilen: Genauso, wie man in manchen ASMR-Videos mit sogenannten «positive Affirmations» verbal aufgebaut und validiert wird, gibt es auch Videos mit «negative Affirmations», da wird man verbal erniedrigt und beschimpft. Im Extrem hat man einen Stalker, Serienkiller oder Kannibalen vor sich, der einen sanft flüsternd über das einem bevorstehenden Schicksal aufklärt, sorgfältig taktil seine Mordinstrumente vorstellt und einen dann geräuschvoll-leise tötet. Wir sehen hier interessanterweise, dass auch extremer Sadomasochismus sehr sanft und zärtlich daherkommen kann.


Selbstverständlich gibt es auch offen erotische ASMR-Videos, auch genannt ASMRotica. Sie reichen von leichten erotischen Inhalten bis zur expliziten Pornografie, welche bis zu komplexen narrativen Rollenspielen ausgedehnt und in allen vorstellbaren und unvorstellbaren Szenarios stattfinden kann. Hauptmerkmale dabei sind auch die sanfte Berührung, die nahen Geräusche (hier häufig Schleimhautgeräusche oder Stöhnen), das Flüstern, die Zärtlichkeit und die Intimität. Weiter können Videos, welche keinen explizit sexuellen Inhalt haben, gleichzeitig auf Youtube und auf pornografischen Websites auftauchen. So ist die Grenze zur Pornografie nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Verwendung verwischt bis non-existent.


Diese Verbindung zur expliziten Sexualität wird innerhalb der ASMR Community keineswegs unkritisch aufgenommen. So gibt es Stimmen, welche sich energisch gegen eine Solche zur Wehr setzen: "If you're going to deep-throat phallic objects and play with your tits, make a damn Chaturbate rather than come onto YouTube and represent the ASMR community like this" (Bronte, 2015). Dagegen finden sich durchaus auch liberalere Einstellungen: "ASMR is such a personal experience, and there's no dictator telling us definitively what it "is" or "isn't”. It all comes down to personal preferences and as long as it causes the relaxing feeling, nobody can really say anything. It makes it more of an art, and you can't create 'wrong' art" (Bronte, 2015).

 

Analyse


Wie es einigen psychoanalytisch verständigen Betrachtern schon eingefallen sein mag, liegt bei ASMR der Begriff des polymorph Perversen nicht ferne. Gleichzeitig kann man sich fragen, ob wir es hier mit einer Sublimierung eben dieser Anteile zu tun haben. Nun gestaltet sich die Sache doch um einiges komplizierter, sodass ein Eintauchen in die Grundsätze der Freud'schen Sexualtheorie nötig ist.


In seinem richtungweisenden Text 3 Abhandlungen zur Sexualtheorie (Freud, 1905) führte Sigmund Freud "normale", sowie perverse Formen der Sexualität auf gemeinsame kindliche Ursprünge zurück, kritisierte die gesellschaftliche Trennung zwischen beiden und brachte das Ganze in Verbindung zum neurotischen Symptom. Freud zeichnet die ontogenetische Entwicklungsgeschichte der Sexualität auf und beschreibt dabei Konzepte und Prinzipien, welche der regelhaften, sowie der abnormen Entwicklung der Sexualität zugrunde liegen und argumentiert, dass erstere auch immer letztere beinhalten muss. Nach Freud bindet sich die Libido, die sexuellen Energie oder das sexuelle Interesse, dem Lustprinzip entsprechend, an gewisse Körperstellen (erogene Zonen), deren Stimulierung Lust erzeugte, drängt in der Folge auf die Wiederholung dieser lustvollen Erfahrung. Ein reflexartiges Saugen an der Mutterbrust wird so libidinös besetzt und durch ein lustvolles ablöst. So kommt Freud zu den psychosexuellen Phasen der Entwicklung: oral, anal, phallisch oder ödipal und genital. An diese Verbindungen von Körperstelle und Sinnesreizen angelehnt entstehen Symptome, Komplexe und ganze Charakterstrukturen. Die Freud'sche Sexualtheorie, wenn auch schon lange und häufig umgeformt, ergänzt, kritisiert, reininterpretiert und von weiteren Entwicklungsmodellen überschrieben, stellt nach wie vor einen Grundstein des psychoanalytischen Denkens dar und kann wie hier gezeigt werden soll nach wie vor dazu beitragen gewissen Phänomenen auf den Grund zu gehen. Es sei jedoch gewarnt, dass, wenn auch eine solche Erfassung durch die klassische Freud'sche Theorie zentrale Aspekte des Phänomens erhellen mag, sich weitere Aspekte dieser Ordnung entziehen werden, sodass wir sie gegen Ende halbfertig liegenlassen müssen.

Welcher Phase der psychosexuellen Entwicklung entspricht ASMR? Schon hier droht der Gedanke zu scheitern, denn weder sind es durchwegs orale, anale, phallische oder genitale Wünsche und Befriedigungen, die ASMR ausmachen, wenn sie auch alle vorkommen können. Zunächst entspricht ASMR zwar nicht unbedingt einer der Freud'schen Stufen, doch scheint sie im Prinzip der Freud'schen Idee von erogenen Zonen und damit verbundenen Sinneseindrücken nicht zu widersprechen. Die Lust, die bei ASMR empfunden wird, könnte als eine hauptsächlich auditive bezeichnet werden, da das Geräusch als Auslöser nahezu nie fehlt. Dies greift allerdings zu kurz, sind es doch auch Berührungen (echte oder simulierte), die die Empfindung auslösen können. Weiter, so scheint es, deuten auch die auditiven Trigger (Kratzen, Flüstern, Reiben) auf Berührung oder zumindest physische Nähe hin. So betrachtet könnten alle ASMR Lüste und Videos im Ursprung grob einer taktilen Lust zugeordnet werden. Es ist jedoch unklar, ob hier das Hören die Berührung durch das Medium notgedrungen ersetzt, oder ob es gerade die Kombination der beiden ist, die den Reiz ausmacht. Wie dem auch sei, es soll festgehalten werden, dass Geräusch und Berührung hier eine Ehe eingehen und man der ASMR Lust Gewalt antun würde, würde man selbige auflösen wollen. ASMR mag also so weit als erogene körperliche Lust verstanden werden, doch eine Einreihung in die Phasen der Freud'schen Sexualtheorie gelingt nicht ganz, respektive, muss einige Aspekte, wie die Beziehungsdynamik zwischen ASMRtistIn und Betrachter vernachlässigen.


Hier ist Bowlby zu erwähnen, welcher aufgrund der experimentellen Arbeit von Harlow (Harlow & Zimmermann, 1958), der klassisch Freud'schen Idee des oralen Bedürfnisses als Ursprung der Objektbindung zunächst widersprach und das Grundbedürfnis nach Wärme und Schutz (nach Bezogenheit) an dessen Stelle setzte (Bowlby, 1961).

Bowlbys Überlegungen scheinen Freud zwar im Detail zu widersprechen (das orale Bedürfnis scheint zumindest nicht das einzige zu sein, welches für die frühe Bindung ursächlich ist), doch nicht im Prinzip: Die Suche nach zärtlicher Beziehung, basiert eben auch auf körperlichen Empfindungen wie Wärme oder Weichheit und passt so ohne Weiteres zur Idee der lustvollen Körperempfindung als Ursprung der zärtlichen Beziehung. In der Gegenwart des hier untersuchten Phänomens, leistet uns Bowlby durchaus gute Dienste, wenn er, den Freud'schen erogenen Zonen eine grössere Modalität gegenüberstellt, die ihren Platz auf halbem Wege zwischen Objektbeziehung und körperlicher erogener Lust einnimmt. In der Objektbeziehungstheorie, welche sich im Ursprung neben Klein auch auf Bowlby stützt, formieren sich die erogenen Zonen und die damit entstehenden Lüste zu grösseren Einheiten, den Objektbeziehungen, welche durchaus eine eigene Dynamik und Entwicklung aufweisen. In diesem Sinne ist die Lust an ASMR Videos wohl grob der symbiotischen Beziehung nach Mahler zuzuordnen (Mahler, 1975). Betrachter und ASMRtist trennt lediglich die Virtualität des Mediums, welche wiederum eine Nähe in Form einer dauerhaften Verfügbarkeit ermöglicht, wo das Gegenüber in der Fantasie kein Leben neben dem Betrachter führt, wo die Aufmerksamkeit (personal attention) voll und ganz auf den Betrachter gerichtet ist, sowie der Betrachter seine ganze Aufmerksamkeit auf den ASMRtist richtet.


Was bei diesem Fortschreiten der Theoriebildung schnell übersehen werden kann, ist, dass sich Freuds selbst schon mit der Idee von grösseren Lustkomplexen beschäftigt hat, mit grösseren Einheiten, die zwischen den partial perversen Lüsten und der vollen erwachsenen Objektbeziehung stehen. Die Rede ist von der, in Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens postulierten sinnlichen und zärtlichen Strömungen der Sexualität (Freud, 1912d), wo Freud die Dynamiken der sexuellen Entwicklung, aufbauend auf den drei Abhandlungen weiterdenkt. So verbindet laut Freud das Kind die ersten lustvollen körperlichen Empfindungen mit dem primären Objekt, das dieses ermöglicht, wodurch grössere Komplexe entstehen, über welche fortan Wünsche, Bedürfnisse und Fantasien laufen. Die entstandene Luststruktur, die sowohl das primäre Objekt als auch die Lust an Berührung, Nahrung und Wärme beinhaltet und grösstenteils passiv strukturiert ist, nennt Freud die zärtliche Strömung der Sexualität. Die mit der Pubertät neu dazukommende, primär auf das Genital, den Geschlechtsverkehr und Orgasmus ausgerichtete, bezeichnet Freud als die sinnliche Strömung der Sexualität. Das Ziel der sexuellen Entwicklung ist laut Freud die erwachsene genitale Sexualität, wo diese beiden Strömungen im Dienste des Geschlechtsverkehrs und der Fortpflanzung zweckmässig zusammenfliessen. Dies kann allerdings nie perfekt gelingen. Das Inzestverbot, der Kastrationskomplex und die damit einbrechenden Scham- und Schuldgefühle führen im Äussersten dazu, dass nicht nur das primäre Objekt nicht sinnlich besetzt werden darf, sondern auch die Art der Beziehung zu demselben, welche sich hauptsächlich passiv zärtlich gestaltet. So erklärt Freud, dass es manchem Menschen schwerfällt, zärtliche Gefühle, Liebe und Hochschätzung mit sinnlich-sexueller Lust zusammenzubringen, was sich unter anderem dadurch zeigt, dass eine Liaison mit einem zu vertrauten und hochgeschätzten Menschen sich inzestuös anfühlen kann. Das Ergebnis kann im extremen Falle ein Ausfall der genitalen Sexualität in Form von Impotenz oder Frigidität sein. Häufiger ist allerdings zu beobachten, dass sich die Sinnlichkeit und Zärtlichkeit ausweichen müssen. So Freud: «Wo sie lieben, begehren sie nicht, und wo sie begehren, können sie nicht lieben.» (Freud 1912d, S. 1114). Dies zeigt sich bei Männern tendenziell eher dadurch, dass das Sexualobjekt wenig zärtlich besetzt wird, dass es in irgendeiner Weise herabgesetzt oder dominiert werden muss, damit es nicht an die primäre, zärtliche Objektwahl erinnert. Bei Frauen wird die sinnliche Sexualität oft strenger verboten und schamhaft besetzt, sodass diese sich dauerhaft mit dem Verbot verlötet und in der Folge eher das Verbotene eine sinnlich-sexuelle Anziehung ausübt; so zum Beispiel der "Badboy". Dieses Phänomen, so Freud, existiert bei den meisten Menschen zumindest im Ansatz und summiert sich so zu einer gesamtgesellschaftlichen Tendenz. Als Ergebnis wird der Sexualakt in unserer Gesellschaft zu etwas Unanständigem, niederem oder gedanklich weitergeführt, in Zeiten nach der sexuellen Revolution zu etwas Unwichtigem, Nebensächlichem und Liebe und Zärtlichkeit werden zu etwas Unschuldigem, Reinem und Heiligem.


Zurück zu ASMR


Wenn wir versuchen heraus zu destillieren, was vielen meisten ASMR-Videos gemeinsam ist, so finden wir: sanfte Geräusche nahe am Ohr, allgemein aufmerksame zärtliche Tätigkeiten, wo sich um einen gekümmert wird, wo Sicherheit, Ruhe und Intimität vermittelt wird und wo man auf verschiedene Weise stimuliert wird. Dies erinnert an intime zwischenmenschliche Kontakte, an das Kuscheln, Schmusen und Versorgt werden vom Partner/der Partnerin und schlussendlich erinnert es an die frühkindliche zärtliche Behandlung seitens der Mutter: So ist der Kern und der Ursprung der Lust an ASMR der zärtlichen Strömung der Sexualität zuzuordnen. Die zärtliche Strömung hat das Potenzial, sich teilweise unabhängig von der Sinnlichen zu entwickeln und, so soll an unserem Gegenstand gezeigt werden, bindet dabei scheinbar autonom weitere postpubertäre Lüste an sich und ordnet diese der Zärtlichkeit unter.


Die ASMR Videos offenbaren diesen frühkindlichen Ursprung ihres Kerns in variierendem Masse, doch letztendlich scheint es, als ob sie alle zumindest einen Hinweis auf diesen enthalten. Am direktesten zeigt sich dieser in den Videos wo eine Mutterfigur sich um den Betrachter kümmert, aber auch bei denen, wo einem sanft flüsternd Geschichten vorgelesen werden, wo man in den Schlaf gewiegt wird, wo man verarztet wird etc. Zweifelsohne simulieren die Videos, wo man im Rahmen einer Dienstleitung sanft behandelt wird, zum Beispiel beim Coiffeur, eben genau diese Situation, doch auch diese Lust muss ihren Ursprung in den ersten zärtlichen Berührungen (der erste Haarschnitt, die erste Verarztung etc.) in der frühen Kindheit und im Säuglingsalter haben.


Die narzisstisch gefärbte Lust an der intimen Aufmerksamkeit, die dem Betrachter bei den Videos zuteilwird, die "personal attention" beinhalten, lässt sich ableiten aus der Aufmerksamkeit, die dem Kinde zuteilwird, wenn die Eltern aber auch Verwandte und Freunde sich um das frische Kind scharen, es mit Aufmerksamkeit überhäufen, es begeistert beäugen und loben. Einige ASMR-Videos beinhalten unverständliches Geflüster, sogenannte «Ramblings»: hier ist das Geräusch des Flüsterns allein interessant, nicht was gesagt wird. Dies kann ein Hinweis darauf sein, dass der Ursprung dieser Lust aus einer präverbalen Phase der Entwicklung kommt. Auch das Präsentieren von verschiedenen visuellen, farbenfrohen, auditorischen und taktilen Triggern in den Videos erinnert an die Stimulation, die die Eltern dem Säugling zuteilwerden lassen, wenn sie ihm glänzende, farbige oder sonst wie interessante Bilder und Gegenstände präsentieren.

Die Lust an den Videos, wo jemand einer sorgfältigen Tätigkeit nachgeht, kann mit der allgemeinen Vorsicht und Sanftheit verbunden werden, die die Erwachsenen walten lassen, wenn sie in der Gegenwart eines Säuglings irgendeiner, zum Beispiel, haushälterischen Tätigkeit nachgehen. Es darf bei diesen Rückführungen nicht übersehen werden, dass die zärtliche Objektbesetzung ihrerseits auch aus verschiedenen vorher existierenden Teilkomponenten besteht. So lassen sich in gewissen ASMR-Videos Lüste erkennen, deren Ursprünge basaler sind, als dass sie einer zwischenmenschlichen Objektbesetzung zugerechnet werden können. So die Lust an Geräuschen an sich, welche ihre Existenz einer grundlegenden Sensitivität gegenüber Geräuschen verdankt, die schon im Mutterbauch vorhanden zu sein scheint (Brezinka, Lechner & Stephan 1997; López-Teijón, García-Faura & Prats-Galino 2015). Hier haben wir es mit noch unvermittelten, reflexnäheren Stimulus-Reaktions Abläufen zu tun, welche sozusagen schon vorgebahnt oder angedacht im Organismus vorhanden sind und die darauf warten nach der Geburt mit weiteren Erregungen verknüpft zu werden. Diese Lüste ordnen sich in die erste zärtliche Objektbesetzung ein und formen diese mit, sie existieren aber gleichzeitig parallel eigenständig weiter.


Wenn wir nun die Lust an ASMR der zärtlichen Strömung der Sexualität zuordnen und somit der sinnlichen gegenüberstellen, verwundert es nicht, dass uns das Angebot an ASMR-Videos wie eine Art Spiegelbild der Pornografie erscheint. Bei der Pornografie liegt der Fokus auf dem Genitalen, dem Geschlechtsakt, worum sich dann viele individuelle partial perverse Komponenten scharen. Bei ASMR-Videos ist der Kern die Zärtlichkeit, die sich dann ebenfalls weitere Lüste an sich zieht und unter sich vereinigt. Nebst dem Fokus auf die genitale Lust gibt es allerdings einen weiteren wichtigen Unterschied zur Pornografie, welcher ohne Weiteres als Konsequenz aus dem postulierten Kern, der zärtlichen Strömung hervorgeht: die Verteilung der aktiven und passiven Rolle bei ASMR. Der Konsument ist bei ASMR beinahe ausnahmslos in der passiven Rolle, die ASMRtists in der aktiven. Es wird etwas mit einem gemacht, man wird auf zärtliche Weise behandelt und stimuliert, ebenso wie in der frühen Kindheit. Dazu passt auch, dass man die ASMR-Empfindung scheinbar nicht selbst provozieren kann, genauso wenig, wie man sich selbst zum Lachen bringen kann, indem man sich kitzelt. Spannend wird dies bei der Konstellation des männlichen ASMR-Konsumenten und der weiblichen ASMRtistin, da der Mann kulturell sonst tendenziell eher die aktive Rolle in der sinnlichen Sexualität übernimmt und die passive scheut. Dies könnte man mit etwas Freud'scher Fantasie noch weiterspinnen: Die ASMArtistin übernimmt hier auf sanfte Weise die aktive oder die phallische Rolle. Sie dringt ein in eine erogene Zone, nämlich in das Ohr, stimuliert und penetriert diese akustisch mit sanften Geräuschen oder in manchen Fällen auch physisch mit der Zunge.


Am Ende dieser Einordnung in das Freud'sche Denken muss erwähnt werden, dass der Gewinn begrenzt ist. ASMR als Phänomen scheint intuitiv doch spezifischer zu sein, als dass es sich als die Internet-Erscheinungsform der zärtlichen Strömung beschreiben lässt. Das beschriebene Phänomen mag vielerlei Faktoren seine Form verdanken, wobei sich die Frage stellt, ob diese spezifische zärtliche Modalität; leises Geräusch, Nähe, Berührung, Passivität, Symbiose und die Orgasmusartige Reaktion darauf es verdient als eine eigene Einheit in der psychosexuellen Entwicklung betrachtet zu werden. Ohne entsprechende weitere Beobachtungen, auch bei Säuglingen und Kleinkindern, lässt sich diese Frage vorerst nicht beantworten.


Weiter lassen sich der Fokus auf Geräusche, das beschrieben Gänsehautgefühl und die eigenartige Präsentation nicht nur als logische Konsequenzen der Zärtlichkeit auffassen, kann diese sich doch in vielerlei Medien und auf vielerlei Arten zeigen. Vielmehr ist ASMR als von der Zärtlichkeit und gewissen anatomischen Gegebenheiten ausgehend, weiter geformt von den Darstellungsmöglichkeiten des Mediums und der (Internet) Kultur mit ihren Tabus, Geboten und Verboten zu verstehen, sowie der manifeste Traum das Produkt des durch Zensur und Grenzen der Darstellungsmöglichkeiten umgeformten Wunsches ist. ASMR ist nicht die Zärtlichkeit in Reinform, sondern lässt sich in zentralen Aspekten darauf zurückführen und als spezifische kulturelle Erscheinungsform in diese einordnen sowie der manifeste Traum dem latenten Traumgedanken und dem Wunsch (Freud 1900a). Um beim Vergleich mit der Traumbildung zu bleiben: die Traumdeutung lehrt uns nicht nur den Wunsch, sondern auch die damit zusammenhängende Zensur verstehen. In diesem Sinne lohnt es sich, die Reaktionen in und ausserhalb der ASMR-Community zu betrachten und wie der Zusammenhang von ASMR und Sexualität diskutiert oder bestritten wird.


Die ASMR Community


Es herrscht wie bereits erwähnt geteilte Meinung bezüglich dem Thema Sexualität und ASMR. Im Rahmen dieser Diskussion kommt es zu durchaus interessanten Aussagen: "I’m going to talk about a particular pleasure produced by a fascinating "new” phenomenon: the autonomous sensory meridian response, or ASMR, that is sometimes called a "brain orgasm.”  Don’t let the name, the porn-like nature of the videos, (…) fool you: ASMR is not sexual!  It’s just an overwhelming tingling sensation that feels really, really good. ASMR is often described as a tingling that starts at the back of the head and spreads down the spine and limbs—but not below the belt.” (KKIRITAH, 2015).


Doch sind es nicht nur solche Aussagen, die dem Psychoanalytiker (und wahrscheinlich auch anderen) ins Auge stechen. Der Begriff ASMR selbst lässt einen bei genauerer Betrachtung aufhorchen, besonders dann, wenn einem klar ist, dass Jennifer Allen, welche den Begriff ASMR geprägt hat, dies mit dem Ziel tat, eine Bezeichnung zu finden, welche im Gegensatz zu "brain orgasm" keine sexuellen Konnotationen beinhält.


Das Akronym ASMR setzt sich wie folgt zusammen:


•            Autonomous: auotonom/selbstständig

•            Sensory: sensorisch

•            Meridian:  a point or period of highest development, greatest prosperity, or the like.

•            Response: Antwort, Reaktion


Also eine selbstständig ablaufende Reaktion auf einen sensorischen Stimulus, die einen Höhepunkt erreicht. Es ist beachtenswert, dass, um einer Verbindung zur Sexualität entgegenzuwirken, eine Bezeichnung gefunden wurde, mit der man auf technische Weise auch einen Orgasmus beschreiben könnte. Man mag sich an das Freudsche Diktum erinnern, dass das Symptom als Kompromiss zwischen Wunsch und Abwehr immer auch einen Teil Befriedigung des Verdrängten in sich (Freud 1915). Jennifer Allen rechtfertigt ihre Wortschöpfung folgendermassen: "People perceive the meaning of words differently, and a phrase that uses words tied to sexual or taboo activity, or words that have no immediate apparent connection to the topic tend to cause people to form opinions about the validity or intent of the subject at hand. I knew with something as difficult to describe and as sensitive for people to open up about as ASMR that we would need something that objectively and definitively named the sensation. Using a "clinical” word was the best option to improve how the burgeoning community would feel about using and telling others about the word. Critics like to call the term pseudoscientific, but I contend that in this climate of abject skepticism and immediate gratification for knowledge anything less formal or explicit would have failed to meet the needs in this very unique social circumstance. The name was what it had to be to help the community survive, and that was my mission” (Richard, 2016).

 

Aus diesem Zitat ist einerseits zu lesen, dass man nicht mit Sexualität oder Tabu in Verbindung gebracht werden will, da dies die Community in Verruf bringen könnte. Diese Befürchtung ist angesichts der von Freud beschriebenen gesellschaftlichen Erniedrigung der Sexualität durchaus berechtigt.

Zweitens beinhaltet dieses Zitat, dass die ASMR Community, noch nicht einmal mit emotionaler oder persönlicher Terminologie in Verbindung gebracht werden will. Hier lässt sich vermuten, dass es eben die abgewehrte Scham bezüglich der unbewussten potenziellen Verbindung von Zärtlichkeit zur Sinnlichkeit ist, welche das Feld für inzestuöse Fantasien und Ängste eröffnet, worauf mit Verdrängung reagiert wird. Die öffentlich strikt vertretene Zweiteilung von Sexualität und Zärtlichkeit zerfällt an diesem intimsten Punkt, an diesen Videos, welche fernab von einer genitalen Sexualität, einigen Betrachter doch die Schamesröte ins Gesicht treiben kann, wenn sie daran denken, bei ihrem Pläsier von einem Arbeitskollegen erwischt zu werden. Es ist wichtig hier noch einmal zu betonen; ASMR und die damit verbundene Lust entstehen ontogenetisch vor einer phallischen oder genitalen Sexualität und sind nicht auf diese zurückzuführen, sondern umgekehrt. So wird hier, wie es scheint, nicht der Nachfahre wegen seiner in Verruf geratenen Ahnen gemieden, sondern den Ahnen wird die Verwandtschaft zu ihren Nachfahren zur Last gelegt.


Neben Zensur gibt es weitere gesellschaftliche Aspekte von ASMR, welche betrachtet werden müssen, so die Interaktion von moderner Gesellschaftsform, ihren Versagungen und Technologie. Mit dieser Fragestellung beschäftigt sich Ahuja (2013) in seinem Artikel "It Feels Good to Be Measured”: Clinical Role-Play, Walker Percy, and the Tingles. Dazu geht er vom in der ASMR-Community oft zitierten Roman von Walker Percy "Love in the Ruins" aus (Percy, 2011). Die Geschichte folgt einem Psychiater namens Dr. Tom More in einer dystopischen, postapokalytischen Welt. More arbeitet mit einem Gerät, dem «Onthological Lapsometer», das, wenn es dem Patienten auf den Kopf gesetzt wird, imstande ist, chemisches Ungleichgewicht im Gehirn des Patienten zu registrieren und so psychische Störungen messbar zu machen. Im Verlaufe seiner Arbeit erkennt More, dass der nahe Kontakt zum Arzt und die Messung an sich bereits eine gewisse therapeutische Wirkung hat.

Ahuja über ASMR als gesellschaftliches Phänomen: "It would of course be presumptuous to label this community as categorically touch-starved, but we do know that time spent in front of the computer is generally time spent on one’s own. Isolation mediated by modernity is a relatively well-established idea, and one that remains ubiquitous in contemporary public discourse. Yet it provides the basis for another, somewhat radical, model for ASMR—that is, as a kind of hypersensitivity to touch in the setting of its relative deficiency. (…). It bears mentioning that under this hypothesis, the use of technology to relieve distress caused by a technological age contains within it a tidy, almost homeopathic, paradox.” (Ahuja 2013, S. 445).


Eingebettet in die bisherigen Überlegungen handle es sich also um ein gesteigertes menschliches Bedürfnis nach einer gewissen Art von Nähe und Intimität als Produkt der Versagung desselben. Diese Versagung, deren Ursprung durchaus auch auf individueller Ebene anzusiedeln ist, mag auch einen gesamtgesellschaftlichen Faktor beinhalten. Das Bild des Menschen, der im anonymen Gewühl der Grossstadt, wo sich Körper an Körper presst, gleichsam gegen Einsamkeit kämpft und sie auch sucht, ist wohlbekannt. Es ist die zivilisiert gesteigerte Scham, die die Lust an zwischenmenschlichem Kontakt verbietet, sodass sie erst über eine gewisse sichere Distanz zugelassen werden kann oder dadurch, dass sie sich hinter falschem Antlitz und Namen verbirgt.

Vor dem Hintergrund dieser Defizitorientierten Erklärung ist aber daran zu erinnern, dass die Libido Meisterin darin ist, die Schranken, die zur Ersatzbefriedigung nötigen Selbst zu sexualisieren und in die Befriedigung miteinzubauen, was im unglücklichen Fall zum neurotischen Symptom, im glücklicheren zum (partial) perversen Fetisch führt, genauso, wie die Verhüllung des nackten Körpers, die Kleidung, selbst zum Fetisch wird. So sind die Distanz und die Verneinung des Sexuellen nicht unbedingt bedauernswerte Voraussetzungen für ASMR-Lüste; sie erhöhen sie auch und lassen sie in dieser Form überhaupt erst entstehen. So lässt es sich verstehen, dass Walker Percy die ASMR Empfindung mit einer leichten, wohltuenden allergischen Reaktion auf zwischenmenschlichen Kontakt vergleicht.


Konklusion


ASMR stellt, wie so viele Phänomene aus dem Internet, die Psychologie und die Psychoanalyse vor neue Herausforderungen, an denen das Fach selbst nur wachsen kann. Mit einigem Bedauern und Bedenken ist zu berichten, dass solcherart Herausforderungen, wenn sie auch noch so zahlreich auf die ForscherInnen und TheoretikerInnen einprasseln, eher selten wahrgenommen werden. Vielleicht liegt es an der unüberschaubaren Masse an neuen Phänomenen, die im Informationszeitalter entstehen und vergehen, bevor sie eingehend betrachtet werden können und diejenigen, die überdauern werden, noch nicht erkannt werden können. Ein weiterer Grund für die Nichtbeachtung solcher Phänomene mag die Generationenschranke sein, da in die Jahre gekommene theoretisch belesene ForscherInnen im Schnitt wenig sensibel gegenüber rasant entstehenden technischen Neuerungen und Trends sein mögen.


Bei ASMR als Empfindung und Lust allerdings, scheint es sich um etwas zu handeln, dass schon lange vor dem Internet in aller Stille unbemerkt existierte und erst jetzt mit fortschreitender Technologie und deren Verfügbarkeit und Zugänglichkeit sichtbar wurde.

Dementsprechend ist ASMR mit Freud in die zärtliche Strömung der Sexualität einzuordnen, ohne, dass es sich darin erschöpft. Die Lust an den flüsternden, knisternden, sanften Videos lässt sich in die frühe Kindheit bis in die vorsprachliche Zeit zurückverfolgen. Dabei entspricht ASMR nicht nahtlos einer psychosexuellen Stufe, sondern trägt als Lustkomplex Merkmale der oralen, analen, phallischen und genitalen Phase. Der Kern dieser Lust lässt sich als zärtlich-passiv beschreiben. Ein weiteres Merkmal, dessen Stellung und Wichtigkeit innerhalb des Phänomens noch ungewiss ist, ist die ästhetische Modalität: auditiv versus taktil. Der Umgang mit dem Phänomen in der Gesellschaft: sexuell versus emotional versus technisch-neurologisch beruht auf verschiedenen psychologischen und kulturellen Faktoren.

Zu ASMR gibt noch viele Blickwinkel und Aspekte zu beachten, welche in der vorliegenden Arbeit liegen gelassen wurden. Dies einerseits aus zweckmässiger Einschränkung des Fokus, andererseits, da es sich bei ASMR in vielerlei Hinsicht noch um Neuland für die Psychologie handelt. Es folgt eine Aufzählung einige dieser Aspekte.


ASMR als Kunstform: Es ist nicht zu übersehen, dass neben der direkten erogenen Befriedigung, das Kreative eine grosse Rolle in vielen ASMR-Videos spielt. Hier kommt zu der sexuellen Lust noch eine sublimierte hinzu; die Lust an der Kreativität an sich, welche auch aus derselben Quelle kommt, sich aber in der Entwicklung davon emanzipiert hat; das Reizende wird zum Schönen (Freud 1915).


ASMR als Empfindung:  die phänomenologische ästhetische Beschreibung von ASMR ist der eines Orgasmus sehr ähnlich; man spürt ein Kribbeln, das sich dann zu einem Höhepunkt steigert, danach folgt Entspannung und manchmal der Schlaf. Man kann sich also fragen, ob es sich hier um eine Art von präpubertären, nicht-genitalen Orgasmus handelt. So bahnbrechend oder banal die Antwort darauf sein mag, an dieser Stelle bleibt nichts anderes übrig, als auf weitere psychologische und neurologische Erkenntnisse zu warten.


Und zuletzt noch gesondert zu betrachten, ASMR als Therapeutikum: Wie gesagt wird berichtet, dass ASMR wohltuend, entspannend und heilbar sein kann und es gibt bereits Überlegungen, wie man ASMR klinisch verwenden könnte (Barratt & Davis, 2015). Dieser Aspekt wird zum Teil auch in den Videos explizit thematisiert und eingebaut. Es gibt Videos, die spezifisch für Depressionen, Ängste und dergleichen gedacht sind. Einige ASMRtists reden im Flüsterton über ihre eigenen psychischen Probleme und geben therapeutische Ratschläge. Zitat:  "Andere ASMR-Menschen sprechen über Selbstverletzung, über ihre Borderlinestörung, über erlittene sexuelle Gewalt, und ordnen währenddessen Büroklammern auf einer Tischplatte. Fast hat man das Gefühl, Leute beim stückchenweise Zusammenleimen ihrer Persönlichkeit zu beobachten" (Setz, 2015). Zu diesem Aspekt lässt sich spekulieren, dass ASMR wahrscheinlich aufgrund des präödipalen, symbiotischen Charakters für Menschen mit gewissen psychischen Strukturen beruhigend wirken kann. Die erlebten Lüste stammen aus einer Zeit vor der Ablösung, vor der Genitalität, da wo (fast) alles noch in Ordnung war, wo das Kind den Geschlechterunterschied noch nicht kannte, wo es noch untrennbar mit der Mutter verbunden war, welche sich (im Idealfall) stets sanft, zärtlich und immer verfügbar um einen kümmerte. Dazu passend, dass nicht wenige ASMR-Videos mit Worten wie: "You can come back anytime" oder "I'll always be here for you" beendet werden.

 

Gegen Ende ist zu erwähnen, dass es nicht im Interesse der vorliegenden Arbeit ist, ASMR klar dem Sexuellen zuzuordnen, noch zu ermöglichen, dieses Phänomen als durch die Psychoanalyse abschliessend erklärt wegzulegen. Die Natur, und neu im Internet auftauchende Kuriositäten gehören dazu, sollen Objekt fortlaufender Forschung sein, immer aufs Neue verstanden werden und bestenfalls die Betrachtungsweise selbst verändern. Es soll jedoch warnend darauf hingewiesen werden, dass wenn wir dieses Phänomen aber aufgrund gesellschaftlichen Drucks als eine reine Stimulus-Affekt-Reaktion zwischen abstrakten Reizen und dem Gehirn untersuchen und sogar als eine neue medizinische Behandlung institutionalisieren wollen, unter völliger Verneinung von emotionalen, zwischenmenschlichen und sexuellen Aspekten, so laufen wir Gefahr, die Natur der Sache und somit unsere eigene zu verkennen.


Literatur

 

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